es muss ja nicht immer gleich auschwitz zu verhindern sein ..., auch in anderen faellen scheint mir folgender text sehr erhellend; denn:

"Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute."

Erziehung nach Auschwitz

Auszüge aus einer Rundfunkrede Theodor W. Adornos von 1966

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewusst macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, dass die Möglichkeit der Wiederholung was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. (...)

Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute.(...)

Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegenzuarbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt.(...)
Ich glaube nicht, daß es viel hülfe, an ewige Werte zu appellieren, über die gerade jene, die für solche Untaten anfällig sind, nur die Achseln zucken würden; glaube auch nicht, Aufklärung darüber, welche positiven Qualitäten die verfolgten Minderheiten besitzen, könnte viel nutzen.

Autonomie statt künstlicher Bindungen

Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen. Für den gesunden Menschenverstand ist es plausibel, Bindungen anzurufen, die dem Sadistischen, Destruktiven, Zerstörerischen Einhalt tun durch ein nachdrückliches "Du sollst nicht".
Trotzdem halte ich es für eine Illusion, daß die Berufung auf Bindungen oder gar die Forderung, man solle wieder Bindungen eingehen, damit es besser in der Welt und in den Menschen ausschaue, im Ernst frommt. Die Unwahrheit von Bindungen, die man fordert, nur damit sie irgend etwas - sei es auch Gutes - bewirken, ohne dass sie in sich selbst von den Menschen noch als substantiell erfahren werden, wird sehr rasch gefühlt.(...)

Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.(...)
Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, daß man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt. (...)

Kollektive und Verdinglichung

Anknüpfen ließe sich an das Leiden, das die Kollektive zunächst allen Individuen, die in sie aufgenommen werden, zufügen. Man braucht nur an die eigenen ersten Erfahrungen in der Schule zu denken. Anzugehen wäre gegen jene Art folk-ways, Volkssitten, Initiationsriten jeglicher Gestalt, die einem Menschen physischen Schmerz - oft bis zum Unerträglichen - antun als Preis dafür, dass er sich als Dazugehöriger, als einer des Kollektivs fühlen darf.(...)

In dieser gesamten Sphäre geht es um ein vergebliches Ideal, des in der traditionellen Erziehung auch sonst seine erhebliche Rolle spielt, das der Härte.(...)
Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin. Dabei wird zwischen dem eigenen und dem anderer gar nicht einmal so sehr fest unterschieden. Wer hart ist gegen sich, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte, die er verdrängen mußte. Dieser Mechanismus ist ebenso bewußt zu machen, wie eine Erziehung zu fördern, die nicht, wie früher, auch noch Prämien auf den Schmerz setzt undauf die Fähigkeit, Schmerzen auszuhalten. Mit anderen Worten: Erziehung müßte Ernst machen mit einem Gedanken, der der Philosophie keineswegs fremd ist: dass man die Angst nicht verdrängen soll. Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden.
Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus. Dazu paßt die Bereitschaft, andere als amorphe Masse zu behandeln. (...)

Was damals nur einige Nazimonstren exemplifizierten, wird man heute feststellen können an sehr zahlreichen Menschen, etwa jugendlichen Verbrechern, Bandenführern und ähnlichen, von denen man jeden Tag in der Zeitung liest. Hätte ich diesen Typus des manipulativen Charakters auf eine Formel zu bringen - vielleicht soll man es nicht, aber zur Verständigung mag es doch gut sein - so würde ich ihn den Typus des verdinglichten Bewußtseins nennen. Erst haben die Menschen, die so geartet sind, sich selber gewissermaßen den Dingen gleichgemacht. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich.(...)

Technik, Isolation und Identifikation

Eine Welt, in der die Technik eine solche Schlüsselposition hat wie heute, bringt technologische, auf Technik eingestimmte Menschen hervor.(...)
Aber eine solche Hypothese ist noch viel zu abstrakt. Keineswegs weiß man bestimmt, wie die Fetischisierung der Technik in der individuellen Psychologie der einzelnen Menschen sich durchsetzt, wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überwertung, die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen geschieht.(...)

Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können. Was man so "Mitläufertum" nennt, war primär Geschäftsinteresse: daß man seinen eigenen Vorteil vor allem anderen wahrnimmt und, um nur ja nicht sich zu gefährden, sich nicht den Mund verbrennt. Das ist ein allgemeines Gesetz des Bestehenden.Das Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konsequenz. Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Voraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten. Das wissen die Folterknechte; auch darauf machen sie stets erneut die Probe. (...)

Staatsraison: Das potentielle Grauen

Weiter wäre aufzuklären über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte. Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen, oder einfach abweichende Gruppen. Das Klima - ich deutete darauf hin - das am meisten solche Auferstehung fördert, ist der wiedererwachende Nationalismus. Er ist deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke an sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muß, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell. Aller politischer Unterricht endlich sollte zentriert sein darin, daß Auschwitz sich nicht wiederhole. Das wäre möglich nur, wenn zumal er ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen, offen mit diesem Allerwichtigsten sich beschäftigt. Dazu müßte er in Soziologie sich verwandeln, also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat. Kritisch zu behandeln wäre, um nur ein Modell zu geben, ein so respektabler Begriff wie der der Staatsraison: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt.

Walter Benjamin fragte mich einmal in Paris während der Emigration, als ich noch, sporadisch nach Deutschland zurückkehrte, ob es denn dort noch genug Folterknechte gäbe, die das von den Nazis Befohlene ausführten. Es gab sie. Trotzdem hat die Frage ihr tiefes Recht. Benjamin spürte, dass die Menschen, die es tun, ihren Gegensatz zu den Schreibtischmördern und Ideologen, in Widerspruch zu ihren eigenen unmittelbaren Interessen handeln, Mörder an sich selbst, indem sie die anderen ermorden. Ich fürchte, durch Maßnahmen auch einer noch so weit gespannten Erziehung wird es sich kaum verhindern lassen, daß Schreibtischmörder nachwachsen. Aber daß es Menschen gibt, die unten, eben als Knechte, das tun, wodurch sie ihre eigene Knechtschaft verewigen und sich selbst entwürdigen; dass es weiter Bogers und Kaduks gebe, dagegen läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen.


Vortrag im Hessischen Rundfunk: gesendet am 18.4.1966,
Zitiert nach Theodor W. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle 2,
Frankfurt/Main 1969
quelle: junge welt vom 27.01.2001    im netz unter: www.jungewelt.de
die zwischenueberschriften sind von mir